07 Oktober 2017

Weiche Knie und kühne Pläne

Am gestrigen 6. Oktober ist am Abend kein Blogeintrag mehr entstanden. Das lag an der allgemeinen Müdigkeit, die unsere kleine Gruppe nach einem langen Tag erfasst hatte. Zwar reichte es noch für ein Abendessen und nachdem die Kinder im Bett waren für einen Ausklang mit Tsingtao und Sprite, aber danach war Bettzeit für uns alle. Somit teile ich diesen Beitrag in zwei Teile, damit so wenig wie möglich verloren geht.

Nachdem wir uns in den Wutai-Bergen ausgiebig mit dem tibetischen Buddhismus beschäftigt hatten, mussten wir am Freitag Morgen Abschied nehmen von den Bergen. Eine Passüberfahrt gab es noch, anschliessend ging es bergab ins Flachland, vorbei an verlassenen Dörfern und Dörfern, die aussahen, als würden sie bald verlassen sein. Weiterhin vorbei an unzähligen Lkw-Werkstätten: lange Halle entlang der Strasse vor denen staubige 40-Tonner mit offenem Motor oder platten Reifen darauf warten, wieder fahrtüchtig gemacht zu werden. Dazwischen das sozialistische Arbeitskollektiv, wie es nur Ostdeutsche noch kennen: ein paar sitzen rum, zwei arbeiten und die Frau aus dem Büro bringt Tee...

Nach einer mehrstündigen Fahrt kamen wir dann zu unserem Tagesziel: ein Ort, der zwar nicht in der UNESCO Welterbeliste steht, dafür aber in verschiedenen Listen der Art "most dangerous looking Sights": Das Hängende Kloster - Xuangkong Si. 75 Meter über Grund hängt das Kloster mit 40 Hallen, Buddhas, Mönchszellen und abenteuerlichen Gängen und Brücken über dem Talboden. Von unten aus der Warteschlange sieht das ganz hübsch aus und wir hatten etwa 3 Stunden Zeit, das Kloster aus dieser Perspektive zu besichtigen, ehe wir endlich in der Schlange so weit vorgerückt waren, dass wir auch rein konnten. Bei ca. 65'000 Besuchern pro Tag geht es gar nicht anders, als das der Zugang tröpfchenweise reguliert wird, sonst würde wahrscheinlich die ganze Konstruktion runterkrachen. Für mich war der Rundgang dann allerdings alles andere als ein Genuss, eher ein Abenteuer. Die Mönche aus der Erbauungszeit des Kloster im 6. Jahrhundert mussten sehr kleine Menschen gewesen sein, denn die Geländer zum Abgrund hin waren kaum einen Meter hoch. Für heutige Mitteleuropäer (1.70-1.90 im Durchschnitt) ganz blöd, viel zu niedrig. Bei mir machte sich das mit einer gewissen Höhenangst bemerkbar. Aber ich war nicht der Einzige mit dem Problem, was daran erkennbar war, wie die Leute sich ganz dicht an die Wandseite drängten. Manche krochen auf allen Vieren oder hielten sich ihren Sonnenhut vors Gesicht (das macht die Sache ganz bestimmt viel sicherer...). Meinem Neffen (7 Jahre), für den ich die Verantwortung übernehmen sollte, machte das alles nix aus. Wahrscheinlich war die Frage, wer hier wem Sicherheit gibt, andersrum, als ursprünglich geplant.

Wegen Überfüllung noch nicht geschlossen...
Man beachte die Höhe des Geländers (Mann mit weissem Hemd)


Warum das Kloster "hängendes Kloster" heisst, ist nun klar: es wurde in die Felswand hineingebaut. Zwar nicht ganz hängend sondern auf die Felsabsätze und auf eingetriebene Holzbalken. Einige Teile hängen dann aber doch: an Bambusstämmen, die sich deutlich sichtbar biegen, wenn oberhalb/unterhalb die Besucher durchlaufen. Aber warum wurde es gerade hier gebaut? Das hat mit dem nahen Fluss zu tun. Zu früheren Zeiten gab es häufige Überflutungen durch den nahen Fluss und der sollte wohl mit dem Gebet der Mönche besänftigt werden. Um ganz sicher zu gehen, widmete sich das Kloster gleich allen drei örtlichen Religionen: Buddhismus, Konfuzianismus und Daoismus. Alle drei Religionsstifter sind in einer der Hallen nebeneinander aufgestellt. In den 60er Jahren wurde das Problem dann auf chinesische Weise gelöst. Das Tal wurde mit einer Staumauer abgesperrt und die Überflutungen waren Geschichte. Ob der Auszug der letzten Mönche in den 70er Jahren eine Folge davon war, ist nicht überliefert.

Mit weichen Knien bin ich dann mit den anderen sicher und/aber hocherfreut über dieses Erlebnis wieder auf festem Boden angekommen.

Über Sieben Bretter musst du geh'n - in 70 Metern Höhe und fast keinem Geländer.

Keine Probleme - mein Neffe, 7 Jahre alt.

Auch Chinesen werden mal ungeduldig: am unteren Ende dieser Todesfalle
gab es eine Prügelei, bis die Polizei anrückte.

Datong - die Beton gewordene Geschichtsschreibung Chinas

Datong-Beton - das reimt sich fast. Die Stadt mit ihren 1.4 Millionen Einwohnern im Norden Chinas stand lange als Symbol für Kohle = Dreck = Smog. Dabei war sie einst ein Zentrum des alten Chinas und Hauptstadt einer Dynastie, die verschiedene Volksgruppen zu vereinigen vermochte. Im Namen ist dieses festgeschrieben: da tong - die Grosse Einheit. Lange Zeit, vor allem in der Volksrepublik, war sie gezeichnet vom Kohlebergbau und der kommunistischen Revolution. Dreck auf der Landschaft und Dreck in der Luft, der sich langsam auf die Landschaft niedersenkt. Dazu die Zerstörung der Geschichte während der Kulturrevolution und der gewachsenen Bevölkerungsstruktur während der Jahre des langsamen Aufstiegs (60er - 80er Jahre). In der letztgenannten Zeit wurden Teile der Altstadt Datongs plattgemacht für sozialistische Plattenbau-Architektur. Zudem wurde die Stadtmauer abgetragen und die Steine als Baumaterial in den Hutongs verwendet, bis von der alten Befestigung nichts mehr übrig war.
Die Rückbesinnung begann in den 2000er Jahren unter anderem mit der Wiederentdeckung der alten Kultur und der Entdeckung, dass sich damit von der aufstrebenden Mittelschicht der Chinesen unglaubliche Mengen an Geld machen lassen. Kurzum: Am Ende des ersten 2000er-Jahrzehnts kam ein neuer Bürgermeister nach Datong und da ein Flughafen schon vorhanden war, musste ein anderes Projekt her: das Altstadt-Projekt. 6 Milliarden Dollar liessen sich offenbar leicht dafür lockermachen und so begann man als erstes 2009 mit der Wiedererrichtung des Stadtmauerrings um den historischen Stadtkern. Als zweites wurde dann begonnen, ausserhalb des Rings Hochhaussiedlungen zu errichten und die ärmlichen Bewohner der traditionellen Hutongs und der Plattenbauten dorthin "abzusiedeln". Dieser und der dritte Schritt überlagern sich zur Zeit: die alte Bebauung wird vollständig entfernt und durch neue Häuser im Stil der Ming-Dynastie (14.-16. Jahrhundert) komplett neu bebaut und als Luxuswohnungen verkauft. Dazwischen ein paar Flanierstrassen mit Andenkenläden und Modeboutiquen für zahlungskräftige Kunden aus Peking und anderswoher. Daneben entstehen - innen aus Beton, aussen mit brauner "Holzfolie" beklebte Tempel, Häuser usw. von denen bei äusserer Betrachtung nicht mehr ganz klar ist, ob das Original oder Nachbau ist. Sowieso: die ganze Stadtmauer - es muss ein Milliardenprojekt gewesen sein - wurde in 3 Jahren völlig neu errichtet.
Allerdings scheinen zur Zeit die Arbeiten erstmal ins Stocken geraten zu sein. Es gibt viele Freiflächen, auf denen sich scheinbar nichts tut, es gibt furchtbar elend aussehende fast (!) verlassene Innenstadtviertel und leerstehende Plattenbauten mit schwarzen Fensterhöhlen. Und es gibt eine Stadt Datong, die einen Schuldenberg von 3 Milliarden Dollar vor sich herschiebt. Beim Schlendern über die Fake-Stadtmauer haben Ben und ich darüber spekuliert, ob das ganze jemals fertig werden wird oder auf halber Strecke steckenbleibt, also etwa in dem Status, den die Bilder zeigen. Und im Unterschied zu uns und unserem Flughafen BER, der vielleicht genauso teuer war wie die Stadtmauer, haben die Datonger eine fertige - funktionierende? - Stadtmauer...

Tempelwächter - es sind immer die gleichen Symbole.

Vorne: Hutongs vor dem Abriss.
Mitte: Plattenbauten vor dem Abriss
Hinten: Neubauten für die Bewohner von Vorne und Mitte...

Bevor wir uns am Nachmittag die "Alt"-Stadt angesehen haben, waren wir noch bei den Yungang-Grotten. Die sind Weltkulturerbe und bestehen aus in den lockeren Sandstein getriebene Höhlen für Buddha-Tempel. Grosse Buddhas, kleine Buddhas, winzige Buddhas - und alle aus dem Stein gehauen oder besser gesagt: herausgeschält: Zuerst wurden oben ein Loch geschaffen, dass wurde die Höhle herausgeschlagen und nur der Buddha blieb stehen. Die hundertausenden kleinsten Skulpturen an den Wänden, Säulen, Nischen, Stufen usw. - alle wurden sie aus dem Gestein herausgearbeitet. Und als das mal erledigt war, begannen umgehend Wind und Wetter mit dem Abtragen dessen, was die Steinmetze übriggelassen hatten: die Statuen. Nach 1'400 Jahren sehen einige nicht mehr gut aus und der natürliche Zahn der Zeit nagt an dem ganzen Rest. Daher war es vielleicht ein Ausflug zur rechten Zeit, denn so viele Buddhas bekommt mal selten an einem Platz zu sehen. Überhaupt: der ganze Ausflug nach Shanxi war eine einzige Buddha-Flut und in den 6 Tagen hier haben wir bestimmt 250'000 davon gesehen.

Deshalb und weil die Golden Week vorüber ist, werden wir morgen Mittag nach Shanghai zurückreisen und ich werde sehen, was ich mir dort noch an Aktivitäten vornehme.

Milde lächelt der Buddha auf uns fremde Besucher herab.

Und der auch.

Und noch einer. Ein wenig erinnert es an die Felsenstadt Petra.

Platte - kennt jeder Ostdeutsche noch

Und das ist ein Ausschnitt aus der neuen Stadtmauer. Wirklich: alles ist neu!


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